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Prof. Dr. Julia Steinfort-Diedenhofen (katho NRW) und Prof. Dr. Karla Verlinden

Tabuisiertes Leid im Pflegeheim

Interview mit Prof. Dr. Julia Steinfort-Diedenhofen und Prof. Dr. Karla Verlinden

Prof. Dr. Karla Verlinden und Prof. Dr. Julia Steinfort-Diedenhofen von der Katholischen Hochschule NRW sprechen am 11. September im Kölner Rathaus über das Thema über die Tabuisierung sexualisierter Gewalt an älteren Bewohner*innen in Pflegeheimen. In ihrem Vortrag erläutern sie den aktuellen Stand der Forschung und fordern von der Politik notwendige Schutzkonzepte.

Wir haben vorab schon mal nachgefragt.

Was können Pflegeeinrichtungen konkret tun, um Fälle sexualisierter Gewalt besser aufzudecken?

Es gibt viele Gründe, die den professionellen Umgang mit und die Thematisierung von sexualisierter Gewalt in der stationären Altenhilfeeinrichtungen erschweren.

Dies sind fehlende Kenntnisse zum Thema sexualisierte Gewalt, zum Umgang mit und zur Aufarbeitung von Vorfällen, Unsicherheiten hinsichtlich der damit ausgelösten Konsequenzen, die Sorge vor falschen Anschuldigungen oder auch die kollegiale Solidarität. Auch wenn (scheinbar) in einer Einrichtung aktuell kein Fall sexualisierter Gewalt identifiziert ist, ist die Investition in präventive Maßnahmen und Schutzkonzepte notwendig.

Wichtig ist, Zuständigkeiten transparent zu klären, Schnittstellen zu externen Kooperationspartner*innen (Ärzt*innen, Therapeut*innen, Beratungsstellen etc.) auszuweisen sowie Melde- oder Dokumentationspflichten zu etablieren.

Auch Angebote für die Betroffenen sowie für die Beschuldigten und nachhaltigen Aufarbeitung, die durch die Reflexion des Geschehenen dafür sorgt, dass das Schutzkonzept analysiert und ggf. angepasst werden sind wichtig, um (künftige) Fälle sexueller Gewalt aufdecken zu können. Je nach Bedarf ist eine Aufarbeitung im Team, mit den Adressat*innen oder der gesamten Einrichtung nötig.

Neben der organisationalen Aufarbeitung gilt es die Betroffenen bei der Verarbeitung der Gewalterfahrung bestmöglich zu begleiten und zu unterstützen. Dies schließt die umfassende Begleitung und Unterstützung im Entscheidungsprozess bezüglich einer Strafanzeige und im Rahmen des Strafverfahrens mit ein.

Welche Maßnahmen sollte die Politik einleiten, um Bewohner*innen in Pflegeheimen zu schützen?

Was gebraucht wird, ist ein kollektiver Umgang, der über die oft geäußerte Betroffenheitsrhetorik politischer Amtsträger*innen hinausgeht und sexualisierte Gewalt als das anerkennt, was sie ist: ein tief verwurzeltes Phänomen bzw. soziales Problem unserer Gesellschaft.

Hier sind u.a. politische Maßnahmen im Sinne einer Querschnittsaufgabe gefragt, die die kollektive Verantwortung für sexualisierte Gewalt anerkennen, ernsthafte Täter*innen- und Bystander-Prävention voranbringen und zugleich solidarische Unterstützung und echten Willen, der über bloße Lippenbekenntnisse hinausgeht, zur Aufarbeitung mit Betroffenen und Täter*innen zeigen.

Folglich sollte jeder Fall sexualisierter Gewalt, von der in der Mikrobetrachtung nur eine einzelne Person betroffen zu sein scheint, auf der Makroebene als Übergriff gegen alle Menschen der Gesellschaft bewertet werden.

Dies mag bei dem Problemfeld sexualisierter Gewalt gegen Kinder bereits recht gut gelingen – hier herrscht gesamtgesellschaftlich Einigkeit, dass sich sexuelle Annäherungen an Kinder verbieten.

Was sexualisierte Übergriffe gegen andere vulnerable Personengruppen angeht, insbesondere ältere und alte Menschen gibt es hier noch viel zu tun und zu investieren, z.B.:

  1. die Aufstockung der Forschungsförderung zu evidenzbasierten Präventionsmaßnahmen,
  2. die Ausweitung von spezialisierten Psychotherapieangeboten für Betroffene und Täter*innen (besonders im Sinne der Rückfallprophylaxe),
  3. die Anpassung der Ausbildungsinhalte von Fachkräften aus allen sozialen, pädagogischen und medizinischen Sektoren hinsichtlich sexualisierter Gewalt und deren Verhinderung,
  4. die Ratifizierung einer UN-Altenrechtskonvention sowie
  5. alters- und geschlechtsspezifische sexuelle Bildung als Präventionsmaßnahme.

Mehr zum Thema erfahren Interessierte bei Wissenschaft im Rathaus am 11. September um 18.00.
Anmeldung unter: https://koelner-wissenschaftsrunde.de/kwr_termine/tabuisiertes-leid-sexualisierte-gewalt-gegen-bewohnerinnen-im-pflegeheim/