KWR, Kölner Wissenschaftsrunde, Meldungen aus Köln, Wissenschaft

080719_KatHO-NRW_Marion-Koell

© Marion Koell | KatHO NRW

Suchtforschung

Kinder müssen besonders geschützt werden

Professor Dr. Michael Klein forscht seit den 1980er Jahren zu Sucht und Suchtverhalten. Vor 20 Jahren gründete er an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen das „Deutsche Institut für Sucht- und Präventionsforschung“ (DISuP). Im Interview erzählt er, warum besonders Kinder geschützt werden müssen, weshalb Deutschland trotz strenger Gesetzgebung nicht vor einer Drogenkrise gefeit ist und wie er persönlich mit Suchtgelüsten umgeht.

Herr Professor Klein, wie wurde Sucht Ihr Thema?
Sucht und Suchtverhalten sind mir schon im Psychologiestudium begegnet, aber erst während meines Zivildienstes in der Suchtklinik Daun in der Eifel wurde mir die Tragweite ganz praktisch bewusst. Vor allem die Kinder leiden unter der Suchterkrankung ihrer Eltern: Gut zwei Drittel von ihnen wird selbst körperlich oder psychisch krank – das sind bislang weitgehende vernachlässigte transgenerationale Effekte. Leider werden betroffene Kinder sehr selten mit in die Therapie einbezogen, da unser Versorgungssystem vollkommen individuumsfixiert ist und den Entwöhnungskliniken keine Kosten erstattet werden, wenn die Kinder Teil während der Therapie der Eltern selbst präventive oder therapeutische Hilfen brauchen. Deshalb starteten wir in meiner Zeit als Leitender Psychologe, später als Klinikleiter in Daun im Jahr 1984 damit, Kinder auf eigene Rechnung zu behandeln. Daran hat sich bis heute wenig geändert.

Kinder suchtkranker Eltern sind am „Deutschen Institut für Sucht- und Präventionsforschung“, das Sie im Jahr 1999 an der KatHO NRW gründeten, Ihr Schwerpunktthema geblieben. Was ist das Besondere in Ihrer Arbeit?
Seit 2008 hat sich unser Institut verstärkt der Prävention von Suchterkrankungen verschrieben, deren Wirksamkeit man auch beforschen muss. Generell geschieht das kaum und es wird zu wenig über die Effizienz von Prävention nachgedacht – im Unterschied zu den medizinischen Therapien, die oft hinsichtlich ihrer Effektivität beforscht werden. Deshalb beschäftigt sich das DISuP mit selektiver und indizierter Prävention. Das heißt, wir schauen auf die Risikogruppen und erforschen, wie man diese erreichen kann. Wichtig ist der Praxisbezug, weil am DISuP kaum Grundlagenforschung oder biologische Diagnostik möglich ist. Umso stärker thematisieren wir die angewandte psychosoziale Forschung.

In dem 20-jährigen Institutsbestehen hat das DISuP 35 Drittmittelprojekte mit Fördergeldern in Höhe von circa acht Millionen Euro auf Bundes-, Landes- und EU-Ebene realisiert. Welches Projekt ist Ihnen besonders wichtig?
Auch hier sind es Kinder aus suchtbelasteten Familien, die mir besonders am Herzen liegen. Dazu haben wir die Projektreihe „Trampolin“ ins Leben gerufen, für die das DISuP seit 2008 im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit Präventionskonzepte für Kinder aus suchtbelasteten Familien entwickelte und evaluierte. Bei der Prävention der acht- bis zwölfjährigen Kinder ist es entscheidend, ob es dem Therapeuten gelingt, ihnen die Sucht der Eltern kindgerecht zu erklären und ihre emotionalen und verhaltensnahen Kompetenzen zu stärken. Auch Achtsamkeitsschulungen, die die Kinder in ihrem Verhalten im Hier und Jetzt stärken oder Störeffekte aus der Umwelt verringern, wirken sich positiv aus. Sie können sich positiv auf sich selbst fokussieren und gelangen seltener in einen eigenen Problemkreislauf.

Sie erforschen das Suchtverhalten seit 1999. Wie hat es sich verändert?
Besonders die Verhaltenssüchte haben zugenommen, also Verhaltensweisen, die sich exzessiv und unkontrolliert entwickeln. Dazu gehören vor allem die Glücksspielsucht, die Onlinesucht und die Kaufsucht. Diese Verhaltensweisen werden im Moment der Handlung als sehr lustvoll und positiv rauschartig wahrgenommen, auf lange Sicht haben sie aber schwere Nachteile und negative Konsequenzen für die Betroffenen. Die Menschen können ihr Verhalten – lernpsychologisch gesehen – schlecht langfristig kontrollieren, denn nur, was kurzfristig geschieht, zählt. Oft steckt eskapistisches Verhalten wie die Flucht aus dem Alltag, Probleme am Arbeitsplatz, in Schule oder Partnerschaft dahinter. Auslöser für diese Verhaltenssüchte ist die ständige Verfügbarkeit: das Internet über Smartphone, Tablet oder Computer, die langen Öffnungszeiten der Shoppingmeilen. Die Menschen haben oft keinen kontrollierten Umgang damit gelernt und gesellschaftlich wird zu wenig vor den Kontrollverlustgefahren gewarnt.
Aber auch die substanzbezogenen Süchte bleiben Thema: Alkohol ist Volksdroge Nummer 1 und Deutschland beim Konsum europaweit auf einem vorderen Platz. Männer trinken schon lange viel und oft, Frauen inzwischen auch mehr. Leider gibt es wenig Bewusstsein für die negativen Gesundheitseffekte des Alkohols. Die wenigsten wissen, dass Alkohol im Übermaß krebserregend ist. Erfreulicherweise wird weniger geraucht, vor allem dank der EU-Tabakschutzgesetzgebung werden Passivraucher inzwischen besser geschützt.

Die USA hat eine schlimme Drogenkrise erlebt, verursacht durch die massenhafte Verschreibung von opioiden Schmerzmitteln. Droht Deutschland ein ähnliches Szenario?
Die strengere Medikamentengesetzgebung hierzulande wird eine solche, durch Medikamente ausgelöste Krise eher verhindern. Dennoch droht Deutschland auf lange Sicht eine Heroinwelle durch die hochtraumatisierten Geflüchteten, die 2015 zu uns kamen. Wenn sie in ein paar Jahren die Folgen ihres Traumas richtig spüren, haben sie mit Heroin das beste Beruhigungsmittel gegen Traumafolgen an der Hand und sitzen durch ihre Verbindungen in die Heimatländer direkt an der Herstellerquelle. Deshalb müssen sich Suchthilfe und -forschung schon heute darauf einstellen.
Gleiches gilt für eine bald mögliche Cannabislegalisierung: Die neuen Züchtungen der Cannabispflanze enthalten hochkonzentriertes THC. Damit ist der Rausch intensiver, aber auch das Suchtrisiko ist heute doppelt so hoch als noch vor 30 Jahren. In den USA sitzen die großen Drogenunternehmen schon in den Startlöchern und wollen den Weltmarkt mit Cannabis überspülen. Besonders Deutschland ist wegen seiner Bevölkerungsstruktur und seiner hohen Kaufkraft ein interessanter Markt. Ähnlich wie mit Big Tabacco, als fünf große US-Unternehmen ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts den Zigarettenmarkt dominierten, droht nun ein Big Cannabis-Szenario.

Kinder, Jugendliche, Studierende, Berufstätige, Senioren: Von allen Personengruppen, die Sie untersucht haben, welche bedarf am meisten Schutz?
Im Grunde sind es die Kinder, weil sie den größten Teil ihrer Entwicklung noch vor sich haben. Das beginnt bereits als Ungeborenes im Mutterleib, denn diese Kinder sind in Deutschland keine rechtsfähigen Personen. Keiner kann für sie klagen, wenn die werdende Mutter raucht oder Alkohol trinkt. Drogen in der Schwangerschaft und das Fetale Alkoholsyndrom sind auch Themen unserer Forschungen. Pränataler Kinderschutz kann nur durch Beratung und mit Konsens der Schwangeren erfolgen – in der Praxis versucht man das, aber damit erreicht man nicht alle.

Was ist aus Ihrer Sicht die größte Herausforderung der Drogenprävention?
Durch die Tatsache, dass die Drogengesetzgebung tendenziell immer liberaler wird, wird dem Einzelnen immer mehr Verantwortung für seinen eigenen Konsum übertragen. Das hat Vor- und Nachteile. So muss der Einzelne in der Steuerung seines Drogenkonsums viel kompetenter und mündiger sein – angesichts der immer komplexer designten Substanzen, die auf den Markt kommen, das Riesenproblem des 21. Jahrhunderts.

Sie haben sich so viel mit dem Thema Sucht beschäftigt – haben Sie auch eine Schwachstelle?
Das ist ein interessantes Thema der Selbsterfahrung, denn durch das Selbstbelohnungssystem im Gehirn haben wir Zugang zu lustvollen Erlebnissen, zu denen schon ursprünglich im Zuge der Evolution der Spezies Essen oder Sex gehörten. Bei Schokolade werde ich schwach, allerdings habe ich mich auf Bitterschokolade umgewöhnt. Das war mir am Anfang viel zu bitter, aber dafür kann ich nicht so viel davon essen – also ein gutes Mittel der Selbstkontrolle. Ich stamme im Übrigen aus einer Winzerfamilie an der Nahe. Dort lernt man einen genussvollen Umgang mit Alkohol. Denn das beste Gegenmittel zu allen Süchten ist der Genuss. Am Ende ist weniger mehr.

Vollständige Quelle: KatHO