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© Paul Leclaire

Hinter den Kulissen: Prof. Bayraktar

Forschende aus Köln stellen sich vor

Kurzinterview mit Prof. Dr. Sevi Bayraktar von der Hochschule für Musik und Tanz (HfMT)

Was sind Ihre Forschungsschwerpunkte und woran arbeiten Sie aktuell?
Ich interessiere mich vor allem für die Erforschung von Verbindungen innerhalb der Künste in verschiedenen kulturellen Kontexten. Mein interdisziplinärer akademischer Hintergrund in den Kunst-, Geistes- und Sozialwissenschaften motiviert mich, an den Schnittstellen verschiedener wissenschaftlicher Bereiche zu forschen, wie z.B. Tanz- und Performancestudien, Musik und Ethnomusikologie, soziokulturelle Anthropologie, Tanzethnographie, Postkolonialismus, Kritische Theorie, Ethnizität und „Rasse“, Gender Studies, feministische und Queer-Theorie und Mediterrane Studien.

Mein aktuelles Buchprojekt stellt Tanz, Gender und politische Philosophie im zeitgenössischen Nahen Osten in den Vordergrund und kombiniert choreographische und ethnographische Methoden. Meine Monographie untersucht die moderne Geschichte des Volkstanzes, Prozesse der Heritagisierung und soziale Bewegungen in der Türkei und analysiert die Beziehung zwischen Tanz-Ästhetik und politischer Handlungsfähigkeit.

Außerdem habe ich im Moment zwei aktuelle Forschungsprojekte: Das eine fragt nach der Weitergabe und Reproduktion von Kunst durch Migration zwischen der Türkei, Deutschland und Frankreich. Diese Forschung zielt darauf ab, sich mit den Fragen künstlerischen Forschung auseinanderzusetzen, indem sie die Kunstpraxis mit den historischen Bedingungen inter-nationaler und inter-generationeller Migration zusammenbringt und die Grenzen und Überschneidungen zwischen Ritual, Kunst und Religion untersucht. Mein zweites Projekt ist aufgrund von Corona und dem Lockdown auf Eis gelegt. Hier werde ich mit dem Berliner Phonogramm-Archiv zusammenarbeiten, um die Feldforschungsaufnahmen deutscher Musikwissenschaftler des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu Musik- und Tanztraditionen in Kleinasien zu bearbeiten. Wie können wir das Innere und das Äußere des Archivs betrachten, um ein wissenschaftliches Wissen aufzubauen?

Was verbirgt sich hinter dem Bereich Tanz, Performance & Musik im globalen Kontext?
Für diesen Bereich ergibt sich eine spannende Interdisziplinarität aus der globalen Perspektive heraus. Ein globaler, kritischer Standpunkt lehnt den Universalitätsanspruch des westlichen Kunstschaffens und Kunstbetrachtens ab und erkennt die eigene individuelle Positionierung in Bezug zu den spezifischen sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen und Geschichten der Kunst- und Kulturproduktion an. Es zielt darauf ab, notwendige Bedingungen zu schaffen, um die gegenseitige Befruchtung verschiedener Disziplinen für kritische und dekoloniale Formen des Wissens zu ermöglichen, wobei die Auseinandersetzung mit dem Globalen Süden im Vordergrund steht.

Als Brücke zwischen Theorie und Praxis konzentriert sich das Feld auf wissenschaftliche und künstlerische Forschung sowie deren Anwendungsfelder. Wir bieten eine multidisziplinäre Methodologie an, die translokale, nicht-binäre, nicht-hierarchische und de-koloniale Ansätze in der Kunst und Wissenschaft fördern soll.

Die Förderung von lokalen, nationalen und internationalen Verbindungen im Bereich der Kunst ist ein wichtiger Teil unserer Vision. In diesem Sinne ist es unsere Absicht, das ZZT – Zentrum für Zeitgenössischen Tanz und die Hochschule für Musik und Tanz Köln als zentrale Institutionen zu positionieren, um Verbindungen zwischen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Community-Organisator*innen und einem größeren Publikum in der Stadt zu schaffen.

Wo beeinflussen sich der Tanz, die Performance & Musik im globalen Kontext am stärksten und wie äußert sich das?
Die Tanzwissenschaftlerin Susan Foster erwähnt die Ersetzung von „ethnischen Tänzen“ durch „Welttänze“ in den Künsten, um das koloniale Erbe der rassischen und klassenbasierten Hierarchisierungen der Künste zu beschönigen. In Hinblick auf diese Umbenennung wurden ethnische Tänze „eher als lokal denn als transzendent, eher als traditionell denn als innovativ, eher als einfach denn als anspruchsvoll, eher als Produkt des Volkes denn als Genie angesehen. (Foster, Susan Leigh (Ed). 2009. Worlding Dance. Basingstoke, UK: Palgrave Macmillan.)

Diese Perspektive ist ähnlich problematisch für die Konzeptualisierung der globalen Kunst, die oft als eine Sammlung von Produkten verschiedener Kulturen aus der ganzen Welt gesehen wird. Die Globalisierung hat zweifellos das Tanz- und Musikschaffen auf der ganzen Welt beeinflusst. Neue Medientechnologien, die Massenverbreitung von Kunstprodukten und transnationale Netzwerke haben die lokale Kunst auf die globale Bühne getragen. Die globale Bühne ist jedoch immer noch enthusiastisch, „andere“ Ästhetiken und Körper einzubeziehen, die oft als exotische Kulturen imaginiert werden.

Das Feld des Tanzes, der Performance und der Musik in globalen Kontexten nimmt an dieser Diskussion teil, indem es sich der Epistemologie verweigert, die zwischen Kunst/Nicht-Kunst, Westen/Nicht-Westen, gewöhnlich/exotisch etc. unterscheidet. Es geht auch über das Paradigma des neoliberalen Multikulturalismus hinaus und zeigt die Komplexität, sich der Kunst in verschiedenen kulturellen Kontexten zu nähern. In diesem Sinne verspricht es Zusammenarbeit und eine radikale Interdependenz statt Unabhängigkeit der Künste und Künstler*innen. Es sieht eine ökologische und humanitäre Interkonnektivität und ihre Manifestationen in der Herstellung und Verbreitung von Kunst vor, die wir meiner Meinung nach heute mehr denn je brauchen.

Was machen Sie am liebsten, wenn Sie nicht gerade arbeiten?
Ich bin sehr glücklich darüber, dass die intellektuellen und künstlerischen Teile meiner Arbeit mich auch privat begeistern. Ich gehe in meiner Freizeit gerne in Museen, Konzerte und ins Theater. Außerdem lese ich gerne Literatur, die ich für mein akademisches Schreiben sehr inspirierend finde, um es lebendiger und zugänglicher zu machen. Einige meiner Lieblingsschriftsteller*innen sind Ursula Le Guin, Jorge Louis Borges, Gabriel Garcia Marquez, Tezer Özlü und Arundhati Roy. Ich schaue mir auch gerne Sterne an, die inspirierende und immer wieder neue Choreographie der Sterne am Himmel bereitet mir viel Freude.

ZUR PERSON
Prof. Dr. phil. Sevi Bayraktar ist Professorin für Tanz, Musik und Performance im globalen Kontext am Zentrum für Zeitgenössischen Tanz. Mit dem Ziel, eine Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen, setzt Sevi Bayraktars Forschungsarbeit bereits in ihrer interdisziplinären Ausbildung in der Türkei und den USA an. Sie studierte Politische Wissenshaft (BA) und Sociology (MA) an der Bogazici University Istanbul, und promovierte in Kultur und Performance an der University of California, Los Angeles (UCLA), wo sie auch als Teaching Fellow unterrichtete. Ihre Arbeiten erschienen in Performance Philosophy; Dance, Movement & Spiritualities; und Performance in the Public Sphere. Ihre kommenden Artikel werden derzeit für die Zeitschrift für Ethnologie. Als Tänzerin ist Sevi’s Arbeit von einer Vielzahl von Bewegungsformen inspiriert, darunter Tänze aus Kleinasien, Sufi-Rituale und Flamenco.