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Experience-Marketing

Restaurants und Einzelhandel müssen Mehrwerte schaffen

Ob bei Amazon oder Lieferando – immer mehr Menschen erledigen ihre Einkäufe online und bestellen ihre Mahlzeiten im Internet. Da verwundert es nicht, dass nicht nur der digitale Einzelhandel, sondern auch das onlinebasierte gastronomische Liefergeschäft in Deutschland seit Jahren steigende Umsätze verzeichnen. Gleichzeitig klagen mittlerweile zwei Drittel der stationären Händler über eine sinkende Frequentierung ihrer Geschäfte.

Was bedeutet diese Entwicklung für die stationären Betriebe? Und wie können sich der Einzelhandel und die Gastronomie verändern, um für Menschen dauerhaft attraktiv zu sein? Im adhibeo-Interview sprechen Dr. Guido Scholl und Prof. Dr. Mihir Ignatius Nayak von der Hochschule Fresenius (HS Fresenius) in Köln über die neuen Herausforderungen und erläutern, welche Möglichkeiten das Konzept des Experience-Marketing bieten kann, um diese zu bewältigen.

Für den stationären Einzelhandel wird es immer schwerer, Kunden in die Geschäfte zu locken. Auch Restaurants sehen sich mit diesem Problem konfrontiert. Wie lässt sich dies erklären?
Dr. Guido Scholl: Wir leben in stark gesättigten Märkten. Gerade in den Bereichen Bekleidung, Sportartikel und Unterhaltungselektronik gibt es eine hohe Anzahl an Anbietern bei einer tendenziell begrenzten Nachfrage. Dabei kommen die Wachstumsraten, die wir im Moment im Einzelhandel sehen, hauptsächlich aus dem Onlinehandel und nur zu einem kleinen Teil aus dem stationären Bereich. Dies ist nicht weiter überraschend: Denn die Konsumenten fragen sich natürlich, welche Art von Shopping für sie bequemer ist und wo sie gegebenenfalls auch noch Geld sparen können – und da hat es der stationäre Einzelhandel derzeit schwer, sich zu behaupten.

Prof. Dr. Mihir Ignatius Nayak: Die Restaurantbranche ist mit denselben Herausforderungen konfrontiert. Die Liefermöglichkeiten im Internet werden immer zahlreicher und auch zunehmend beliebter. Die Konsumenten können heute auch qualitativ hochwertiges Essen bestellen und müssen dafür nicht einmal aus dem Haus gehen. Diese Entwicklungen können jedoch zu einem Verlust der Urbanität führen, dazu, dass die Innenstädte auf Dauer ganz anders aussehen werden.

Vor allem in kleinen und mittelgroßen Städten ziehen viele Geschäfte weg oder müssen ganz aufgegeben werden. Welche Ursachen hat dies?
Dr. Guido Scholl: Derzeit hilft die Konjunkturlage dem stationären Einzelhandel noch zu – wenn auch schwachen – positiven Wachstumsraten. Auch die Gastronomie erfreut sich noch einer relativ hohen Beliebtheit. Die Tendenzen, die wir aktuell beobachten können, sind aber problematisch: So formulierte der Handelsverband Deutschland (HDE) bereits Anfang 2019 in einem Brandbrief an die Politik, dass einige kleine und mittelgroße Städte zu veröden drohen. Dabei hat das Thema Ladensterben mehrere Ursachen. Eine besteht darin, dass die Mieten gerade in den Toplagen stark anziehen, sodass es für die Unternehmen angesichts von Preisdruck und überschaubaren Margen schwer ist, diese zu finanzieren. Zum anderen spielen im klassischen inhabergeführten Fachhandel auch Nachfolgeprobleme eine Rolle. Das Ladensterben hat auch Konsequenzen für die Gastronomie: Denn wenn die Städte nicht mehr als Shopping-Areas interessant sind, nehmen auch weniger Menschen die gastronomischen Angebote wahr.

Was bedeutet die Konkurrenz durch Angebote aus dem Internet für die Gastronomie?
Prof. Dr. Mihir Ignatius Nayak: In der Gastronomie gibt es den Begriff „Ghost Kitchen“. Dies ist eine Küche, die vor allem dazu da ist, Essen für Lieferungen herzustellen. In manchen Fällen gibt es noch einen kleinen Restaurantbereich. Aber es gibt auch Küchen, die mit gar keinem Restaurant verbunden sind. Die Ghost Kitchens sind in meinen Augen eine passende Analogie, um die Geisterstädte zu beschreiben, in denen sich im Stadtkern nur noch wenige oder gar keine Geschäfte befinden, weil die Menschen lieber online einkaufen und sich ihr Essen liefern lassen.

Die potenziellen Kunden dieser Geschäfte finden jedoch im Internet zahllose Möglichkeiten, die Dinge zu bestellen, die sie brauchen, und sich auch ihr Essen direkt nach Hause liefern zu lassen. Welche Gründe gibt es überhaupt noch, um trotzdem in eine Innenstadt zu gehen, dort einzukaufen und ein Restaurant zu besuchen?
Prof. Dr. Mihir Ignatius Nayak: Wenn es für die Konsumenten keinen Grund mehr gibt, in einem Geschäft zum Beispiel Kleidung oder Technik zu kaufen oder in ein Restaurant zu gehen, dann werden sie es auch nicht tun. Der stationäre Einzelhandel und die Gastronomie müssen ihnen Mehrwerte bieten, die sie im Internet nicht finden.

Dr. Guido Scholl: Aus der Perspektive der Stadtentwicklung stellt sich für mich zudem die Frage, ob Innenstädte nur als eine Ansammlung von Einkaufsmöglichkeiten gesehen werden oder auch als Orte sozialer Kommunikation. Die Menschen, die zum Beispiel zum Shoppen in eine entfernte Stadt fahren, könnten dies genauso gut im Internet tun. Es geht ihnen aber nicht nur um klare Zielkäufe, sondern auch um Unterhaltung und Freizeitbeschäftigung. Dabei spielt der Aspekt des Erlebnisses eine wichtige Rolle: Die Konsumenten können in ein schön gestaltetes Geschäft gehen, sich die Sortimente anschauen und die Ware mit eigenen Händen anfassen – dies sind durchaus Gründe, um den stationären Handel weiter zu nutzen.

Mithilfe des Konzeptes des Experience-Marketing können diese Erlebnisse gezielt angeboten werden. Was kann man sich unter dem Konzept vorstellen?
Dr. Guido Scholl: Das englische Wort „experience“ kann sowohl mit Erlebnis als auch mit Erfahrung übersetzt werden. Diese Doppeldeutigkeit liegt auch dem Konzept des Experience-Marketings zugrunde: Es ermöglicht nicht nur, Konsumenten ein Erlebnis zu bieten, sondern auch, eine Nutzererfahrung zu schaffen, in der die Produkte schon vor dem Kauf erlebt werden können. Dabei beinhaltet Experience-Marketing verschiedene Instrumente, die Erlebnisse und eine Interaktion mit den Produkten kombinieren. Die Konsumenten gelangen dadurch aus einer distanzierten Betrachterrolle in eine anwendungsorientierte Interaktion, in der ihre Neugier auf und ihre Bindung an die Produkte gefördert werden.

Um welche Instrumente handelt es sich?
Dr. Guido Scholl: Zum einen bieten eine großzügige Ladengestaltung und ansprechende Dekoration Erlebnismomente. Zum anderen kann durch Eventmarketing und Verkaufsförderung eine emotionale Bindung zwischen Konsumenten und Produkten hergestellt werden. Die Kölner Filiale von Globetrotter, eines Händlers für Outdoor-Artikel, hat beispielsweise ein Tauchbecken, in dem man Tauchausrüstungen, aber auch Kanus ausprobieren kann, sowie eine Regen- und eine Kältekammer, um Outdoor-Kleidung zu testen. Die Konsumenten können auf diese Weise direkt in eine Interaktion mit dem Produkt treten. Gleichzeitig differenzieren sich das Erlebnis und die Erfahrung maßgeblich von einer Bestellung im Internet. {…}

Wie kann Experience-Marketing auch in der Gastronomie einen solchen Erfahrungskontext herstellen?
Prof. Dr. Mihir Ignatius Nayak: Die Frage ist: Worauf kommt es beim Experience-Marketing an? Um diese zu beantworten, haben wir die Anforderungen an die Gastronomie und den stationären Handel auf fünf zentrale Charakteristika verdichtet: Der Besuch eines Restaurants und der Einkauf in einem Geschäft sollten „remarkable“ und „memorable“ sein, also einzigartig sein und lange im Gedächtnis bleiben. Sie sollten „engageable“ sein, das heißt die Möglichkeit geben, zu interagieren. Die Angebote sollten „relatable“ und „targetable“, also auf die Zielgruppe abgestimmt und an diese adressiert sein. Das Konzept und Image des Unternehmens müssen „believable“, glaubwürdig, sein. Schließlich sollte auch das jeweilige Konzept des Experience-Marketings selbst in eine integrierte Kommunikation eingebettet sein, die Kommunikations- und Werbeinstrumente sollten „connectable“, also vernetzt, sein.

Dr. Guido Scholl: Die Vermittlung von Produkterfahrungen in der Vorkaufphase ist in der Gastronomie schwerer zu realisieren als im stationären Einzelhandel. Für den Begriff des Erlebnisses gibt es dagegen viele Beispiele, die jedoch noch nicht in der Breite umgesetzt sind. Einige Restaurants haben das Essen à la carte durch ein komplett individualisiertes Angebot ersetzt, bei dem Gäste genau die Speisen bekommen, die sie möchten. Manche Restaurants gehen noch einen Schritt weiter und bieten Gästen an, unter Anleitung selbst zu kochen.

Wie werden sich der stationäre Einzelhandel und die Gastronomie in Zukunft verändern? Und welche Rolle wird dabei Ihrer Meinung nach Experience-Marketing spielen?
Prof. Dr. Mihir Ignatius Nayak: In meinen Augen wird es weder der Gastronomie noch dem stationären Einzelhandel auf Dauer möglich sein, so weiterzumachen wie bisher. Man wird dazu übergehen müssen, verschiedene Erlebnisse und Erfahrungen im Sinne des Experience-Marketings anzubieten und dadurch Mehrwerte zu schaffen, die sich von Online-Lieferdiensten sowie digitalen Einzelhändlern klar differenzieren.

Dr. Guido Scholl: Die Veränderungen im stationären Einzelhandel hängen von vielen Faktoren ab, die dazu führen werden, dass die Summe der Einzelhandelsbetriebe sinken wird. Es wird zudem mehr Filialsysteme und eine geringere Anzahl an kleinen Händlern geben. Die Notwendigkeit, den stationären Einzelhandel attraktiver und interaktiver zu machen, wird meiner Meinung nach steigen, ebenso wie jene, noch stärkere Synergien zum Onlinehandel herzustellen. Bei allen diesen Herausforderungen kann das Experience-Marketing ein wichtiger Baustein sein – und wenn es konsequent umgesetzt wird, kann es dazu beitragen, die Attraktivität stationär geführter Betriebe und damit auch innerstädtischer Standorte zu erhalten.

Vollständige Quelle: HS Fresenius