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Charakterkunde des Social Distancings

Die Krise als Chance aktiv gestalten

Eine kleine psychoanalytische Charakterkunde des Social Distancings | Von Prof. Dr. Ingo Jungclaussen

Aus der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie wissen wir, dass Menschen auf Herausforderungen, wie aktuell auch dem Social Distancing, aufgrund ihrer Persönlichkeit unterschiedlich reagieren.
Am wenigsten von der Krise emotional tangiert scheint dabei die schizoide, d. h. die Nähe vermeidende Persönlichkeit. Da diese von jeher sozial distanziert und kühl Beziehungen unterhält, fühlen sich diese in ihrer Angst vor Nähe durch die Krise bestätigt: Sie brauchen sich für ihren Rückzug nicht mehr schuldig zu fühlen. Jetzt ist es sozial anerkannt, sich sozial zu isolieren.

Während der zwanghafte und hysterisch strukturierte Mensch seine sonst als problematisch erlebten Verhaltensmuster in der Corona-Krise erstmal als normal erlebt (häufiges Händewaschen wird empfohlen, alle um einen herum sind emotionalisiert), leiden andere Persönlichkeiten anders unter der sozialen Isolation.

Der sog. depressiv strukturierte Mensch fürchtet ständig den Liebesverlust und kümmert sich deswegen primär um andere, weswegen er hierfür die ständige Anerkennung des anderen benötigt. Fehlt diese, erlebt er sich als nicht liebenswert. Aktuell beobachten wir, dass ein Teil dieser depressiv strukturierten Menschen in der Corona-Krise besonders unter der sozialen Isolation leidet und ein depressives Erleben fördern kann. Ihnen fehlt die soziale Anerkennung, die sie so dringend bedürfen. Einem anderen Teil gelingt es seinen Altruismus in neue Bahnen zu kanalisieren und wertvolle Hilfsbeiträge für das Gemeinwesen in der Krise zu leisten.

Die emotional-instabile Persönlichkeitsstruktur (Borderline) hat bereits im normalen Leben große Schwierigkeiten Nähe und Distanz entsprechend zu regulieren. Unter dem Druck des Social Distancings kann es – möglicherweise in beengten häuslichen Verhältnissen – zu starken Impulsdurchbrüchen und Gefühlsreaktionen kommen. Auch neigt diese Persönlichkeit zu Spaltungsvorgängen, also einem Schwarz-Weiß-Denken, und tendiert dazu, zwischen einem „wir“ vs. „ihr“ pauschal zu trennen. Vor diesem Hintergrund kann ein von „oben“ verordnetes Social Distancing zusätzlich heftigen Ärger auf „die da oben“ auslösen und die Akzeptanz des Social Distancings stark gefährden.

Beim narzisstisch strukturierten Menschen sind vielfältige Formen der Bewältigung des Social-Distancings denkbar, wie z. B. der gekränkte Rückzug auf sich selbst, durch übermäßiges digitales Zurschaustellen in Sozialen Netzwerk oder destruktives Entwerten anderer Bevölkerungsgruppen oder Länder.

Die Krise als Chance

Eine besonders progressive Form mit Social Distancing umzugehen ist es, mit der Realität, die man erstmal nicht verändern kann, aktiv gestalterisch umzugehen. Kreative Beispiele hierfür sehen wir in diesen Tagen vielfältig: Menschen produzieren von zu Hause kreative Podcasts oder humorvolle Filme zum Thema zu Hause-bleiben oder Homeoffice, digitale Flashmobs werden kollektiv an der offenen Fensterbank veranstaltet und Hochschulen setzen ihren Lehrbetrieb vollständig auf online-Lehre um uvm.

Social Distancing kann letztlich für den Menschen jedweder Persönlichkeit eine Chance bedeuten, sich weiterzuentwickeln: Die Konflikte, z. B. mit dem Partner, können dann nicht mehr wie sonst durch Entfliehen in auswärtige Arbeit überspielt werden. Die Menschen begegnen einander zu Hause mehr als früher.

Auf menschlicher Ebene kann also in der Krise und dem Social Distancing für jede Persönlichkeit eine noch unerkannte psychologische Entwicklungsaufgabe und Chance für ein neues Miteinander verborgen sein.

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Prof. Dr. Ingo Jungclaussen ist Diplom-Psychologe und lehrt Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Fachhochschule des Mittelstands (FHM) in Köln.
Wir danken ihm für dieses Statement.